Seite 2 - Die Operationalisierung von Ziraat - Firos Holterman ten Hove

Die Operationalisierung von Ziraat - Firos Holterman ten Hove
Raub der Proserpina (Albrecht Dürer, Radierung 1516)

Durch diesen Schritt gab er den alten Mysterien (wie Eleusis oder dem Osiris-Kult) eine neue Perspektive. Es gäbe keine Wolkenkratzer, Flugzeuge, Computer und so weiter, wenn ihre Entwickler, Techniker und Manager sich nicht auf die Landwirte hätten stützen können, welche für die grundsätzliche Bedürfnisse des Lebensunterhalts zuständig sind: nämlich die Nahrung.

(Pir Vilayat Inayat Khan, The Message, vol 7 no 5, May 1981)

 

Was war die Zielsetzung der Mysterien-Kulte? Murshid: “Manche haben gemeint, dass es sich um eine geheime landwirtschaftliche Schulung handelt, andere, dass es eine über Jahrhunderte von Priestern aufgeführte Maskerade war.”

 

Wir finden hier genau die geläufigen Meinungen über Ziraat wieder:

Manche sagen: wir können doch nicht alle Bauer werden! Andere: Ja, naturverbunden bin ich auch, aber wozu diese komische Rituale? - Die alten Mysterien-Kulte handelten von der Thematik des Lebens und Sterbens. Die Produktivität der Erde, bei den alten Griechen als Proserpina personifiziert, ging jeden Herbst verloren und das hat unter den Menschen eine enorme Angst ausgelöst. „Wer wird dafür sorgen, dass es wieder einen Neuanfang mit genügend Nahrung für alle geben wird?“ so bangte man.

 

Bauer darf nur derjenige sein, der es schafft, die Sterbensprozesse in der Natur zu überwinden, damit im Frühjahr das Getreide wieder wächst. Nur derjenige, der Kenntnis hat von Sterben und Wiederauferstehung, kann ein guter Bauer sein und nachhaltige Nahrungssicherung gewährleisten. Nur ein Mensch, der gezeigt hat, dass er/sie selber diesen angsteinflößenden Prozess beherrscht und die bedrohliche Finsternis überwunden hat, darf für den Ackerbau Verantwortung übernehmen. Murshid zitiert Apuleius, ein Eingeweihter in Eleusis aus dem 2. Jahrhundert: “Ich ging bis zur Grenze zwischen Leben und Tod, ich wanderte durch die vier Elemente hindurch, ich stand an der Schwelle von Proserpina, zur tiefsten Mitternacht sah ich die Sonne in hell leuchtendem Glanz, ich sah die höheren und niederen Götter und betete sie ganz aus der Nähe an.”

 

Wir im Westen des 21. Jahrhunderts kennen diese Angst heute nicht mehr, welche über die Menschen in der Antike in jedem Herbst gekommen ist. Wir gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass es im Winter und auch im nächsten Jahr etwas zu Essen geben wird, das man im Supermarkt kaufen kann. Aber können wir uns auch auf die Landwirtschaft stützen, damit der nächsten Generation gesunde Nahrung zur Verfügung stehen wird? In diesem Bezug stehen wir mitten in einer großen existentiellen Krise. Der Bauernstand wurde in den letzten 50 Jahren so stark reduziert, dass er heute in Mitteleuropa nur noch 2% der Bevölkerung ausmacht. Und nun ist diese kleine Gruppe von Menschen in Verruf geraten. Man stellt fest, dass die Bauern mitverantwortlich für den Klimawandel sind. Das Vertrauen der Bevölkerung, dass die Bauern die grundsätzlichen Bedürfnisse des Lebens sicherstellen können, ist verloren gegangen. Das löst enorme existentielle Angst aus! Und so wird klar, dass es eine andere Art der Landwirtschaft braucht, die uns über die Schwelle der Finsternis tragen kann und auch im Anthropozän für Nahrungssicherheit sorgt.

 

“In einer Krise würden wir entdecken, wie glücklich wir sind, über ein Stück Land mit eigener Wasserquelle zu verfügen. Dies wird tatsächlich den größten Reichtum auf dem Planeten darstellen.“

(Pir Vilayat Inayat Khan, The Message, vol 7 no 5, May 1981)

 

So wie bei den Freimaurern darüber diskutiert wurde, ob der Bau des Tempels praktisch oder allegorisch zu verstehen ist, so wird in Ziraat-Kreisen darüber philosophiert, ob die Loge operativ oder theoretisch zu verstehen ist. Geht es um konkreten Ackerbau oder sind die landwirtschaftlichen Begriffe symbolisch zu sehen?

 

Murshid: „Symbolismus ist der reife oder fortgeschrittene Aspekt der Kunst. Wenn Symbolismus verwendet wird während die Kunst erst in der Entfaltung begriffen ist, stellt er ein Hindernis in der Entwicklung dar. In diesem Fall wird diese Kunst nicht aufblühen. Wenn Kunst noch in den Kinderschuhen steckt, sollte sie sich nicht mit Symbolismus beschäftigen, weil Symbolismus als Ergebnis einer natürlichen Entwicklung entstehen sollte. Symbolismus ist eine Inspiration; und entfaltet sich natürlich, wenn der Künstler selbst natürlich wird; dann bekommt alles, was er tut eine symbolische Bedeutung. Aber wenn der Künstler mit dem Gedanken beginnt: „Ich muss irgendeine Form von Symbolismus verwenden“, zerstört er seine Kunst. Symbolismus entsteht von selbst als Resultat...“

 

Hat dieses Zitat etwas mit Landwirtschaft zu tun? Ja! Hazrat Inayat Khan sagt “Ackerbau ist Musik, Gartenbau ist Musik”.

Die Kunst von Ziraat fängt also mit einem Stück Land und einer Wasserquelle an. Und desto näher der Ziraat-Bauer an die Natürlichkeit des Ortes und sich selbst herankommt, desto inspirierter wird er. Das Glück liegt darin, mit der Natur in Einklang zu wirken. Die Rhythmen von Tag und Nacht, die Jahreszeiten bekommen eine neue Bedeutung. Die Naturreiche, inklusive die unsichtbaren Naturwesen, fangen an, sich in ihrer tieferen Bedeutung zu entfalten.

 

Der Preis dafür ist Anstrengung, nicht Bequemlichkeit. Deswegen wird der Ziraat-Adept gefragt, ob er bereit sei, zu arbeiten. Keine einfache Entscheidung, da mit dem Gelübde eine heutzutage so moderne kulturelle Freiheit verloren geht, welche darin besteht, möglichst wenig an natürliche Notwendigkeiten angebunden zu sein. In der Ziraat – Einweihung bekommt man eine Kordel umgebunden, die über die Schultern gekreuzt ist. Hazrat Inayat Khan: “Zarathustra selber trug diese heilige Schnur… Sie bringt zum Ausdruck, dass er im Dienst ist – dass er nicht frei ist, das zu tun, was er sich wünscht, sondern nur wozu er ernannt wurde... Weil sein ganzes Wesen auf den Willen Gottes reagiert und indem er Seinen Willen tut, wird sein ganzes Wesen befriedigt.

 

Das Reich Gottes, das im Himmel ist, kommt dann auf die Erde. Es bedeutet nicht, dass es vom Himmel verschwindet, sondern es bedeutet nur, dass nicht nur der Himmel als Königreich des Himmels bleibt, sondern auch die Erde zu einem Königreich des Himmels wird. Der Zweck dieser ganzen Schöpfung ist der, dass der Himmel auf Erden verwirklicht werden kann; und wenn man ihn auf Erden nicht verwirklicht hat, kann man ihn auch im Himmel nicht verwirklichen.