Seite 3 - Zehn Sufi-Gedanken zum Klimawandel von Firos Holterman ten Hove


7. Es gibt eine Moral, die Liebe, die der Selbstverleugnung entspringt und in Akten der Wohltätigkeit aufblüht.

 

Mehr als je zuvor ist der Mensch das dominante Lebewesen. Er beeinflusst alle anderen Lebewesen. Seit ungefähr sechzig Jahren hat er eine solche Kraft entwickelt, dass er sogar die geologischen Prozesse auf der Erde verändern kann.

 

Wir realisieren gar nicht, wie weitreichend unser Einfluss auf die Natur geworden ist. Ein Beispiel: die Gesamt-Masse aller gewirbelten Tiere besteht aus 30% Menschen, 67% Nutztieren und 3% wilder Tiere.

 

Hazrat Inayat Khan: “Im Quran wird gesagt ‚Wir haben den Menschen zum Kalif der ganzen Schöpfung gemacht‘, anders ausgedrückt, zum Meister der Schöpfung.“

 

In der aktuellen philosophischen Diskussion über die monströsen Folgen der menschlichen Meisterschaft beziehen manche den Standpunkt, dass der Mensch sein Recht, eine spezielle Rolle auf Erden zu spielen, verloren hat.

 

Andere behaupten, dass diese katastrophalen Effekte schlicht ein vorübergehendes Phänomen sind und dass der Mensch letztendlich ein versprochenes Utopia erreichen wird, wenn er nur auf seinem Weg weitergeht.

 

Die Haltung der Sufis ist gleichzeitig anthropozentrisch und theozentrisch. Hazrat Inayat Khan: “Die Vollkommenheit von Gottes Manifestation ist der Mensch. Wenn der Mensch Vollkommenheit erreicht, wird Gottes Manifestation perfekt und ohne die menschliche Vollkommenheit wäre Gottes Schöpfung nicht perfekt. Vollkommenheit wird erreicht, wenn der Mensch durch und durch menschlich wird.”

 

Also ist aus der Sicht der Sufis Gott davon abhängig, dass der Mensch menschlich wird, damit das Ziel der Schöpfung erreicht wird.

 

Moral hatte bis vor kurzem hauptsächlich mit unseren Verpflichtungen gegenüber unseren Mitmenschen zu tun. Moralische Gebote wurden von den großen Lehrern der Menschheit vermittelt. Aber seit der Renaissance gehorchen wir im Prinzip keinen Geboten mehr. Philosophen wie Kant erarbeiteten das Konzept der Freiheit der Moral. Sufismus steht in der Linie aller Religionen und gleichzeitig in der Linie der Philosophen der Aufklärung.

 

Heute, beim Anbruch des Anthropozän-Zeitalters, bekommt Moral eine neue Bedeutung. Wenn die Menschheit auf dieser Erde leben will, ergibt sich daraus eine moralische Notwendigkeit. Für die Erde zu sorgen, muss unsere erste Verpflichtung sein, die vor jeder anderen Verpflichtung steht.

 

Nur die Menschheit hat diese einzigartige moralische Verpflichtung. Kein anderes Lebewesen hat eine solche Verantwortung. Wir sind nicht länger frei, zu tun, was immer wir wollen. Wir sind auf dem Weg, heraus zu finden, dass wir unser Verhalten begrenzen müssen. Es ist unsere Aufgabe, (Gott) zu beweisen, dass es richtig ist, dass der Mensch die Erde beherrscht.

 

Wie geht das? Durch Entwicklung unserer Liebesfähigkeit. Verzicht als eine Handlung, sich davor zu scheuen, mehr zu nehmen als zu geben, kommt nur aus Liebe.

 

“O, es ist hervorragend, die Kraft eines Riesen zu haben, aber es ist tyrannisch, sie wie ein Riese zu benutzen.” (Isabella in Shakepeare's "Maß für Maß")

 

Die 7. Antwort unseres Inayati-Ordens auf die Herausforderung des Klimawandels ist, uns selbst und andere dazu zu verhelfen, die Freude zu erleben, die hinter einem Verzicht verborgen liegt. Nichts geht verloren, alles wird gewonnen.

8. Es gibt einen Gegenstand der Verherrlichung, die Schönheit, die die Herzen ihrer Verehrer durch alle Erscheinungen hindurch vom Sichtbaren zum Unsichtbaren erhebt.

 

Die Haupt-Quelle der Schönheit war bisher die wilde unberührte Natur. Eine überwältigende Trauer ergreift uns, wenn uns bewusst wird, dass das meiste davon vernichtet wurde.

 

Die nächst-wichtige Quelle der Schönheit waren die jahrhundertealten Kulturlandschaften. 

Und wieder ergreift uns eine tiefe Trauer, wenn uns bewusst wird, dass immer mehr dieser Landschaften verschwunden sind und nie wieder zurückkommen werden.

 

Die dritte Quelle der Schönheit war die reiche Vielfalt der menschlichen Kreativität in unzähligen unterschiedlichen Kulturen auf der ganzen Welt. Mit Trauer sehen wir, wie die globalisierte Konsum-Kultur nur eine einzige Richtung hat: Einheitlichkeit weltweit.

 

Wenn wir den emporkommenden populistischen politischen Führern überall auf der Welt zuhören, werden wir von der Grobheit ihrer Ausdrucksweise erschreckt. Vielleicht ist, was der eine hässlich findet, für andere angenehm. Hazrat Inayat Khan sagt: “Was schön für den einen ist, muss nicht schön sein für den anderen.” Aber was unseren Planeten vernichtet, kann nicht schön genannt werden.

 

Nur eine Art unsere geliebte Erde und alle ihre Bewohner zu behandeln, bleibt uns: ihre Proportionen und ihre Integrität zu respektieren. Die Sufis suchen nach dem Gesicht der/des Geliebten in allem, was sie sehen und kreieren. Also müssen wir uns in unseren Produktionsweisen einstimmen auf die Erde, wenn wir unsere Liebesbeziehung zu ihr aufrechterhalten wollen und ihr und uns selber Frieden bringen wollen.

 

Deswegen betrachtet Hazrat Inayat Khan Gartenbau und Landwirtschaft als Kunstformen. Er sagt sogar: “Gartenbau ist Musik, Landbau ist Musik.” Die Zeiten, in denen Schönheit ihren Platz im Museum hatte und Pestizide den Acker beherrschen durften, sind vorbei. Abgesehen davon, dass diese Handhabung hässlich ist, ist es nicht länger möglich, unseren Lebensunterhalt durch Tötung von unzähligen anderen Lebewesen sicherzustellen, weil wir entdecken, dass diese anderen Wesen Teil sind des einen Lebens, das uns am Leben hält.

 

Nachdem wir die meisten natürlichen Paradiese vernichtet haben, werden wir anfangen, neue zu kreieren und auf diese Weise nicht nur uns selber, sondern auch der Erde ein Gefallen zu tun.

 

Die 8. Antwort unseres Inayati Ordens auf die Herausforderung des Klimawandels ist, neue Paradiese zu schaffen und auf diese Weise nicht nur uns selbst, sondern auch der Erde zu gefallen.

9. Es gibt eine Wahrheit, die wahre Kenntnis unseres inneren und äußeren Wesens, die die Essenz aller Weisheit ist.

 

Die Wahrheit über das Anthropozän ist, dass der Mensch weltweit seine Umgebung stärker beeinflusst, als manche der großen Naturkräfte. Diese These des holländischen Nobelpreisgewinners Paul Crutzen und seines Teams wird heute im Großen und Ganzen von der internationalen wissenschaftlichen Welt anerkannt. (1 und Appendix)

 

Manche schließen aus dieser These, dass der Mensch über die Natur herrscht oder zumindest in der nächsten Zukunft herrschen wird. Klimawandel ist in ihren Augen einfach nur eine Krise, die vorüber geht, weil der Mensch letztendlich eine glückliche Welt für glückliche Menschen kreieren wird.

 

Tatsächlich verneint eine solche Ideologie die Tatsache, dass die globale ökonomische Entwicklung Welten entstehen lässt, die mit den Möglichkeiten unserer Erde unvereinbar sind.

 

Die Konsequenzen aus der Entdeckung des Anthropozäns sind viel weitreichender. Die Tatsache, dass der Mensch eine Macht entwickelt hat, die die grundlegenden Rhythmen und Strukturen des Planeten beeinflusst, heißt nicht, dass er die Welt beherrschen kann. Es heißt einfach, dass die Verfassung des Planeten von der Verfassung des Menschen abhängt. Die Trennung zwischen der inneren und der äußeren Welt wurde überwunden.

 

Wenn wir verstehen wollen, was mit unserer Erde geschieht, werden wir uns selbst studieren müssen. Wenn wir verstehen wollen, in welchem Zustand wir Menschen uns befinden, können wir unseren Planeten studieren.

 

Diese Einsicht sollte eigentlich dem Größenwahn mancher Ideologien ein Ende setzen. Aber sie tut es nicht, weil Wissen an sich nicht genug ist, um Veränderung zu bewirken. Wir werden Angewohnheiten aufgeben müssen. Wir werden sogar jegliches Konzept darüber, wer wir als Individuen und als Menschheit sind, aufgeben müssen. Dieser Prozess des Zerschmetterns der Konzepte und Angewohnheiten ist die uralte Wissenschaft des Sufismus.

 

Wissenschaftliche Wahrheit ist für einer Wendung auf unserem Planeten nicht genug. Es braucht Wahrheit in der Praxis, nicht nur in der Theorie.

 

Die 9. Antwort unseres Inayati Ordens auf die Herausforderung des Klimawandels ist, unsere Wahrheit in der Anwendung zu beweisen.

10. Es gibt einen Weg, die Auflösung im Grenzenlosen, die die Sterblichen zur Unsterblichkeit erhebt und in der alle Vollkommenheit liegt.

 

Das Streben nach individuellem Wohlstand hat uns an den Rand der Vernichtung unseres Planeten gebracht.

 

Sufismus lädt uns ein, das Konzept unseres individuellen Selbst aufzugeben. Dieses steht dem wirklichen Glück im Wege.

 

Nach dem Anbruch des Anthropozäns ist der Mensch aufgefordert, die Idee von Subjekt (unser individuelles Selbst) und Objekt (die uns umgebende Welt) zu verlassen. Die Wahrheit ist, dass manchmal das Subjekt die Welt und das Objekt das Selbst ist. Nur wenn wir uns trauen, uns in den Rhythmen, Bedeutungen und Bedürfnissen unserer Erde mit all ihren Bewohnern zu verlieren, werden wir die Chance haben, ein Selbst zu entdecken, welches alle diese Anderen umfasst.

 

“Ich verlor mich selbst und ich fand schlussendlich Dich” (Hazrat Inayat Khan)

 

Die 10. Antwort unseres Inayati-Ordens auf die Herausforderung des Klimawandels ist, den Zikr zu praktizieren und zu lehren.

Notizen:

Die 10 Sufi-Gedanken sind Bestandteil der zentralen Lehren des Inayati-Ordens. Sie wurden von Hazrat Inayat Khan Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben.

 

Die Zitate von Hazrat Inayat Khan stammen aus „The Sufi Message of Hazrat Inayat Khan“,

Barrie and Jenkins. Die Übersetzungen sind vom Verfasser dieses Textes inklusive der „Antworten“. Sie versuchen zu beschreiben, wie die Anwendung der zehn Gedanken aussehen könnte, angewendet auf den Klimawandel, dessen Ausmaß vor hundert Jahren kaum jemand voraussehen konnte.

 

Literatur:

Bei der Vorbereitung dieses Aufsatzes haben zwei Bücher eine wichtige Rolle gespielt:

  • Vom französischen Soziologen Bruno Latour: Das terrestrische Manifest, Suhrkamp 2018.
  • Vom australischen Philosophen Clive Hamilton: Defiant Earth, Polity Press 2017.

Note (1):

Will Steffen, Jacques Grinvald, Paul Crutzen & John McNeil, the Anthropocene: Conceptual and Historical Perspectives, Philosophical Transactions of the Royal Society A 369 (2011) 12

 

Appendix:

'The Anthropocene: a new epoch of geological time?'

Royal Society, Philosophical Transactions A, Published: November 11, 2010, UK:

Theme Issue 'The Anthropocene: a new epoch of geological time?' compiled and edited by Mark Williams, Jan Zalasiewicz, Alan Haywood and Mike Ellis.

 

The human imprint on the global environment has now become so large and active that it rivals some of the great forces of Nature in its impact on the functioning of the Earth system. Although global-scale human influence on the environment has been recognized since the 1800s, the term Anthropocene, introduced about a decade ago, has only recently become widely, but informally, used in the global change research community. However, the term has yet to be accepted formally as a new geological epoch or era in Earth history. In this paper, we put forward the case for formally recognizing the Anthropocene as a new epoch in Earth history, arguing that the advent of the Industrial Revolution around 1800 provides a logical start date for the new epoch. We then explore recent trends in the evolution of the Anthropocene as humanity proceeds into the twenty-first century, focusing on the profound changes to our relationship with the rest of the living world and on early attempts and proposals for managing our relationship with the large geophysical cycles that drive the Earth’s climate system.

 

Firos Holterman ten Hove, Januar 2019  (firos.holterman@unitednature.eu)

Vizepräsident des Ziraat im Inayati-Orden.